Evangelisches Gethsemanekloster
Evangelisches Gethsemanekloster

Ein Tag im Gethsemanekloster

Wir Brüder stehen morgens zwischen 5 und 6 Uhr auf. Um 7 Uhr beginnt die Laudes. So ist vorher noch etwas Zeit. Einer von uns geht manchmal schon früh spazieren oder joggen, ein anderer setzt sich in den 10 Grad frischen Quellbrunnen vor der Sommerscheune, um wach zu werden. Das hilft! Dann ist noch Zeit für einen Tee und zur persönlichen Lesung und zum Singen. Bevor die Laudes beginnt, zünden wir die Kerzen im Kreuzgang und im Sakralraum an. Es sind 12 Kerzen, die wir anzünden. Der Tag beginnt feierlich. Um 6.45 Uhr ruft uns die Glocke. Wir schlüpfen in unsere hellen Gewänder. Sie erinnern uns an unsere Berufung und Sehnsucht in der Einheit mit Gott zu leben. Wir schreiten zum Morgengebet. Wir verbeugen uns tief. Wir verbeugen uns nicht vor äußeren religiösen Symbolen. Wir verbeugen uns vor Gott, dem Allmächtigen, dem Schöpfer des Himmels und der Erde.
Ich verbeuge mich gerne vor Gott. Ich spüre die Lust im Herzen, mich vor ihm niederzuwerfen. Wenn ich mich vor ihm verbeuge, richtet sich in mir etwas auf, das größer ist als ich. Im Verbeugen vor Gott werde ich nicht klein, sondern im Herzen groß. Ich meine, dass wir Menschen die Sehnsucht in uns tragen, uns hinzugeben, ganz hinzugeben. Wir ahnen, dass wir in der Hingabe Leben empfangen. Wenn wir uns dem hingeben, der sich in Christus uns hingegeben hat, dann werden wir gerade in dieser Hingabe an ihn mit ihm vereinigt. Die Geste der Verbeugung meint ganz das DU Gottes. Ich werde für einen Moment befreit von mir selbst. Gott ist die Mitte. Nicht ich. Das tut gut.
In der Kapelle
 
Die Gäste und die Hausgemeinschaft sind nun zusammengekommen. Bevor die Laudes beginnt, sitzen wir noch einige Minuten in der Stille. Jeder Morgen ist ein mehr oder weniger bewusstes Erwachen im sakralen, im Gott geweihten Raum. Gott ist da und wir in ihm und er in uns. Das ist nichts Besonderes. Das ist die eigentliche Wirklichkeit, in der jeder Mensch steht, ob er es nun merkt oder nicht. 
Die Laudes beginnt und der Vorsänger singt die ersten Worte des Tages: „Herr, öffne meine Lippen, damit mein Mund dein Lob verkünde.“ Wenn man mehrere Jahre oder Jahrzehnte mit dieser Liturgie lebt, dann hat man dieses Psalmwort schon tausende Male gesungen. Ich sage mir immer wieder, Liturgie ist wie ein Gebirgsbach: In einem uralten Flussbett, zwischen jahrtausende alten Felsen, fließt frisches Wasser. Die Liturgie, die Psalmen sind das Flussbett mit jahrtausende alten Versen, die wie Felsen stehen. Unsere Herzen, unsere Seelen, unsere Stimmen, unsere Anbetung bilden das frische Wasser, das durch das alte Flussbett der Liturgie fließt. Wir versuchen in der Andacht, aufmerksam von Herzen zu singen. Rein formalisierte Andachten sind vergeudete Zeit, sind wie ein ausgetrockneter Gebirgsbach. Das kommt auch vor, macht aber keine Freude, und darin will niemand auf Dauer leben.
Wenn ich in ein aufmerksames und selbstvergessenes Singen komme, ist erstmal alles gut. So beginnen wir singend den Tag und werden ihn auch singend beenden.
Nach der Laudes gehen wir in den Kreuzgang und sprechen uns den Frieden zu. Wenn eine Gruppe da ist, sagen wir 20- oder 30-mal „Friede sei mit dir!“ Und ebenso oft wird uns der Friede zugesprochen. Es ist so einfach und so kostbar.
Friedensgruß im Kreuzgang
 
Anschließend frühstücken wir drei Brüder in der Regel zusammen. Wir essen Frischkornbrei. 
Um halb neun treffen wir uns mit allen Mitarbeitern und sprechen anliegende Arbeiten durch. Wir gehen in unsere Bereiche: in den Garten, die Küche, die Verwaltung und Hauswirtschaft. Es muss geputzt und die Zimmer müssen durchgeschaut werden, und überall wird auf die Ordnung geachtet. Wir haben Gäste. Und wer Gäste empfängt, putzt sein Haus. Die Vorgänge sind in der Hausgemeinschaft eingespielt, und es ist leicht, Gäste mit hineinzunehmen, die mitarbeiten möchten. 
Um 12 Uhr treffen wir uns zum Mittagsgebet. Mittags tragen wir Brüder keine Gewänder. Es ist eine einfache meditative Form. Am Anfang und am Ende des Mittagsgebetes singen wir ein Taizélied. Wir singen dasselbe Lied eine Woche lang. So wird es zum Ohrwurm. Das ist Methode. Es taucht zwischendurch im Tag immer wieder auf und erklingt im Ohr: „Schweige und höre! Neige deines Herzens Ohr! Suche den Frieden!“ Ist jemand bei uns eine Woche zu Gast, wird er dieses Lied innerlich mit nach Hause nehmen.
Nach dem Lied beten wir einen Psalm. Anschließend ist 10 bis 15 Minute Stille. Ich mag es, in der Mitte des Tages so innezuhalten. Die Stille mittags ist innerlich meistens nicht die konzentrierteste Zeit. Der Vormittag klingt mehr oder weniger laut in einem nach. Aber das macht nichts. Wir sind vor Gott so da, wie wir sind und nicht, wie wir vielleicht sein sollten. Zusammen sitzen wir in der Stille. Einfaches Dasein. Langsam legt sich das innere Getöse. „Herr Jesus Christus, Du Sohn Gottes, erbarme Dich meiner.“ Da ist sie wieder, die stille Mitte, Gegenwart, Geheimnis, Hintergrund aller Dinge, verborgen und doch allgegenwärtig, Heimat. 
Wir beten die Fürbitten und sprechen die Namen aus, die Gäste uns in das Fürbittekästchen gelegt haben. Wir stellen so den Menschen, für den wir beten, in die Fürsorge Gottes. 
Mittagsgebet im Oratorium
 
Nach dem Mittagsgebet wird es in der Küche etwas hektisch. Alle helfen mit. Das Essen für die Gruppen und Einzelgäste wird serviert. Anschließend ist Mittagessen mit der Hausgemeinschaft. Am Anfang essen wir schweigend bei Lesung oder Tischmusik. Nach einer Weile geht die Musik aus und wir reden miteinander: Heiteres und Ernstes, Belangloses und manchmal Gehaltvolles oder auch mal nichts. Es kommt alles vor. Wie in einer Familie. Anschließend ist gemeinsames Abspülen und für die meisten Mittagspause bis 15 Uhr. 
Wenn eine Gruppe anreist, so wird sie nachmittags empfangen. Wir führen Gäste, die zum ersten Mal kommen, durch das Haus und über das Gelände und zeigen ihnen alles recht ausführlich. So kennen sie sich aus, fühlen sich sicherer und können besser loslassen. 
Wir empfangen nur Schweigegruppen bei uns. Das ist unsere Prägung. Stille Gruppen verändern die Atmosphäre im Haus. Wenn eine Gruppe ankommt und ins Schweigen geht, wird es von Tag zu Tag spürbar stiller, auch wenn die B 6 und B 82 im Hintergrund weiter rauschen. Es ist eine innere Stille. Es ist, wie wenn durch das stille Dasein der Gäste sich das SEIN still hörbar macht. Es ist schön zu sehen, wenn Gäste langsam durch den Park gehen, auf einer Bank sitzen, oder man hört jemanden aus der Krypta singen. Die GruppenleiterInnen und wir Brüder laden zum Gespräch ein. Es ist wichtig, dass der oder die Schweigende sich aussprechen kann. In der Stille wird alles wohlwollend umfasst. Alles darf sein, alles darf man SEIN-LASSEN. Nur wer sich ausgesprochen hat, kann wirklich still werden.
Die gemeinsame Stille einer Gruppe hat Kraft. Das ist es aber nicht, was wir suchen. Die Stille ist nicht Selbstzweck. Wir suchen die Gegenwart Gottes. Darum ist es so wichtig, dass die Stille in einer Einkehr die Intention des Gebetes in sich trägt. Durchbetete Stille. Solch eine Stille ist beseelt auf Gott hin. Da ist eine Richtung spürbar. Wenn sich einmal die Stille ganz in mir ausbreitet, dann ist sie wie ein unendlicher Raum der Gegenwart, tief wie das Meer. Gott spricht nicht durch hörbare Worte zu mir, sondern durch sein stilles Dasein, das mehr sagt als alle Worte. Ich darf spüren, dass sein Dasein und mein Dasein eines sind. Das genügt.
Um 17.45 Uhr läutet die Glocke zum Abendgebet. Sie ist der Ruf der Ewigkeit an uns. Mit was wir uns auch beschäftigen, wir legen es beiseite. Einüben ins Sterben, ins Loslassen und Ausrichtung auf die Ewigkeit. Dem Gottesdienst ist nichts vorzuziehen, sagte schon Benediktus. Alle Gäste nehmen an den Stundengebeten teil. Wir bilden mit den Gästen eine Gebetsgemeinschaft. 
Die Kerzen werden angezündet. Ruhig füllt sich der Sakralraum mit Gästen und der Hausgemeinschaft. Da ist sie wieder, die gemeinsame stille Ausrichtung auf Gott. Sie holt mich ab und hilft mir, loszulassen, da zu sein, mein Herz neu Gott zu öffnen. Jede Andacht ist Neubekehrung. Der Gottesdienst schenkt mir immer wieder die befreiende Erkenntnis, dass es sich in meinem Leben nicht um mich dreht, sondern um etwas viel Größeres. 
Die Vesper beginnt. Wir singen Psalmen. Mit den Psalmen singen wir unser Leben in der Spannung zwischen Klage und Lobpreis und bringen alles vor Gott. 
Ich mag die Psalmen. Sie sind schön wie die Natur, schön wie der Mensch. Es sind alle hellen und dunkelen Farben unseres Lebens darin, und in alldem ist Gott gegenwärtig. Die Psalmen sind uns fremd und doch vertraut. Mir ist es manchmal, wie wenn wir Träume singen, die wir nicht verstehen. Das macht aber nichts. Die eigenen Träume, die ich nachts träume, verstehe ich ja auch oft nicht. Aber es soll heilsam sein, dass wir träumen. Und so denke ich, ist es heilsam, Psalmen zu singen. 
Psalmengesang in der Kapelle
Nach dem Psalmengesang hören wir auf die Schriftlesung, auf „Worte des ewigen Lebens“.  Vielleicht ist es gar nicht das Wichtigste, was wir aus der Heiligen Schrift lesen und ob es mich anspricht, sondern nur, dass wir aus der Heiligen Schrift lesen. Wir sind so schnell dabei, zu verwerten, was wir hören, ob es uns gefällt und „etwas bringt“. Manchmal trifft mich ein Wort ins Herz und ich weiß, ich bin gemeint. Das ist aber die Ausnahme und es kommt eher selten vor. Wir hören auf die Heilige Schrift, weil sie Wort Gottes ist. Ich möchte das in einem kindlichen Glauben annehmen. Das heißt nicht, dass ich die Bibel wörtlich nehmen muss. Wehe dem, der die Bibel in allem wörtlich nimmt. Er bleibt zu leicht an der Oberfläche der Worte und am Rechthaben hängen. Die Bibel ist nicht mein, sondern Gottes Wort. Ich kann nicht darüber verfügen. Sie ist vielschichtig, eher wie Dichtung zu verstehen, die das Unaussprechliche zur Sprache bringen möchte. So erfüllt mich die Lesung der Heiligen Schrift weniger mit verwertbarem religiösem Wissen, sondern eher mit einer stillen Ahnung der Gegenwart des Heiligen. Diese Ahnung ist das himmlische Brot für unsere Seelen.
 
Nach dem Singen und Hören des Abendgebets beginnt die Stille am Abend, die Klausurzeit. Es gibt keine weiteren Gemeinschaftstreffen. Wenn möglich keine Termine. Jeder Bruder isst für sich sein Abendbrot in seiner Wohnung. Wir sind gemeinsam allein vor unserem Gott. Es wird stiller. Wir verzichten in der Klausur auf Fernsehen, Internet und Telefonate. Haben Zeit zur Lesung, zu einem Spaziergang, zur persönlichen Meditation oder auch zum stillen Zimmerputzen. Unsere Klausurzeit ist Ausdruck unserer Berufung zum Gebet, zur Kontemplation. In unserer heutigen Zeit empfinde ich das als einen gewissen spirituellen Luxus: So viel Zeit für die persönliche Gottesbegegnung. Es stellt uns in die Verantwortung, diese Zeit auch zu nutzen. Dafür sind wir hier. Das Gebet der Bruderschaft ist der Herzschlag des Gethsemaneklosters. Es ist überlebenswichtig für diesen Ort, als Ort des Gebets. 
Das ist unsere Tagesgestalt. So leben wir hier seit 33 Jahren im Gethsemanekloster. Wir halten die Ordnung, und die Ordnung hält uns. Vielleicht ist das alles etwas idealisiert beschrieben. Dahinter verbirgt sich immer der einzelne Mensch und Bruder mit seinen vielleicht ungelösten Themen, Sehnsüchten und Stimmungen. Jeder Tag hat seine eigene Färbung.

Jahresthema 2024

Alles, was ihr tut, geschehe in Liebe.

1. Korinther 16,14
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